Als Thomas Knüwer und Mario Sixtus ihre 17 Punkte zum Journalismus im Internetzeitalter mit „Internet-Manifest“ überschrieben, zeigten sie damit, dass sie etwas Grundlegendes politischer Natur schaffen wollten. Ähnlich wie die Verfasser anderer Manifeste aus der Geschichte, sprechen sie im Interesse Vieler, stellen aber anders als ihre Vorgänger den Text zur Diskussion. Es bleibt spannend, denn das Internet-Manifest wird kontrovers im Netz aufgenommen und womöglich bin ich nicht die einzige, die liebend gern einen Blick in die Kristallkugel werfen würde, um eine Vorstellung der zukünftigen Medienlandschaft zu bekommen. Wer wird in zehn oder zwanzig Jahren an den Knotenpunkten der vernetzten Informationsgesellschaft sitzen?
Wir sind viele
Sicher werden die großen Medienunternehmen mit kleinen, aber erfolgreichen Publishern, vielleicht auch mit der ein oder anderen One-Man- oder One-Woman-Show um die Sahnestücke der Kommunikationslandschaft konkurrieren. Die Großen haben einen gewaltigen Vorsprung und sitzen immer noch an wichtigen Hebeln der Print- und Broadcasting-Medien. Aber wir Kleinen sind an manchen Ecken schneller, weil kein Blogger sich ein neues Konzept von der Chefredaktion und der Finanzabteilung absegnen lassen muss. Und ein wichtiger Umstand: Wir sind viele. Unter Bloggern finden sich oft Spezialisten, die mit Begeisterung über ihr Fachgebiet schreiben. Dieser umwerfenden Motivation steht der Journalist gegenüber, der oder die sich unter Umständen in das jeweilige Themengebiet erst einarbeiten muss und vielleicht der neuen EU-Milchverordnung kein so glühendes Interesse entgegenbringt wie der bloggende Milchbauer.
Eigenverantwortlicher User
Nicht nur das Schreiben und Recherchieren steht zur Debatte, sondern auch die Frage, wer in Zukunft Nachrichten bewerten und gewichten wird. Wer sorgt dafür, dass George Clooneys sexuelle Orientierung eine größere Headline bekommt, als die bevorstehende Bundestagswahl? Das werden in Zukunft noch verstärkter die Mediennutzer sein und letztendlich wird jeder einzelne noch mehr für sich alleine die Entscheidung treffen müssen, welche Nachrichten er oder sie in welchen Medien konsumiert. Kommen wir also zur zahlreich belegten These, die sich aufs Fernsehen bezieht, aber noch stärker fürs Internet gilt: „Fernsehen macht dumme Menschen dümmer und kluge klüger.“ Die Schere zwischen Wissenden und Nichtwissenden wird größer, das ist eine der wenigen Aussagen, die ich ohne Kristallkugel für die Zukunft zu machen wage.
Das Internet-Manifest beschreibt Entwicklungen, die bereits lange im Gang ist. Früher sprach man von Binsenweisheiten. Ein mit einer geschichtlich vorbelasteten Überschrift versehener Text wird daran nichts ändern. Aber Thomas Knüwer und Mario Sixtus haben uns Bloggern wieder etwas gegeben, an dem wir uns reiben dürfen. Das tue ich mit großer Freude.
Foto: pixelio.de Fotograf tommyS © Digitalfotovision
Den kompetten Text des Internet-Manifest gibt es unten nach dem Klick …
Das Internet-Manifest:
1. Das Internet ist anders.
Es schafft andere Öffentlichkeiten, andere Austauschverhältnisse und andere Kulturtechniken. Die Medien müssen ihre Arbeitsweise der technologischen Realität anpassen, statt sie zu ignorieren oder zu bekämpfen. Sie haben die Pflicht, auf Basis der zur Verfügung stehenden Technik den bestmöglichen Journalismus zu entwickeln – das schließt neue journalistische Produkte und Methoden mit ein.
2. Das Internet ist ein Medienimperium in der Jackentasche.
Das Web ordnet das bestehende Mediensystem neu: Es überwindet dessen bisherige Begrenzungen und Oligopole. Veröffentlichung und Verbreitung medialer Inhalte sind nicht mehr mit hohen Investitionen verbunden. Das Selbstverständnis des Journalismus wird seiner Schlüssellochfunktion beraubt – zum Glück. Es bleibt nur die journalistische Qualität, die Journalismus von bloßer Veröffentlichung unterscheidet.
3. Das Internet ist die Gesellschaft ist das Internet.
Für die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt gehören Angebote wie Social Networks, Wikipedia oder Youtube zum Alltag. Sie sind so selbstverständlich wie Telefon oder Fernsehen. Wenn Medienhäuser weiter existieren wollen, müssen sie die Lebenswelt der Nutzer verstehen und sich ihrer Kommunikationsformen annehmen. Dazu gehören die sozialen Grundfunktionen der Kommunikation: Zuhören und Reagieren, auch bekannt als Dialog.
4. Die Freiheit des Internet ist unantastbar.
Die offene Architektur des Internet bildet das informationstechnische Grundgesetz einer digital kommunizierenden Gesellschaft und damit des Journalismus. Sie darf nicht zum Schutz der wirtschaftlichen oder politischen Einzelinteressen verändert werden, die sich oft hinter vermeintlichen Allgemeininteressen verbergen. Internet-Zugangssperren gleich welcher Form gefährden den freien Austausch von Informationen und beschädigen das grundlegende Recht auf selbstbestimmte Informiertheit.
5. Das Internet ist der Sieg der Information.
Bisher ordneten, erzwungen durch die unzulängliche Technologie, Institutionen wie Medienhäuser, Forschungsstellen oder öffentliche Einrichtungen die Informationen der Welt. Nun richtet sich jeder Bürger seine individuellen Nachrichtenfilter ein, während Suchmaschinen Informationsmengen in nie gekanntem Umfang erschließen. Der einzelne Mensch kann sich so gut informieren wie nie zuvor.
6. Das Internet verändert verbessert den Journalismus.
Durch das Internet kann der Journalismus seine gesellschaftsbildenden Aufgaben auf neue Weise wahrnehmen. Dazu gehört die Darstellung der Information als sich ständig verändernder fortlaufender Prozess; der Verlust der Unveränderlichkeit des Gedruckten ist ein Gewinn. Wer in dieser neuen Informationswelt bestehen will, braucht neuen Idealismus, neue journalistische Ideen und Freude am Ausschöpfen der neuen Möglichkeiten.
7. Das Netz verlangt Vernetzung.
Links sind Verbindungen. Wir kennen uns durch Links. Wer sie nicht nutzt, schließt sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus. Das gilt auch für die Online-Auftritte klassischer Medienhäuser.
8. Links lohnen, Zitate zieren.
Suchmaschinen und Aggregatoren fördern den Qualitätsjournalismus: Sie erhöhen langfristig die Auffindbarkeit von herausragenden Inhalten und sind so integraler Teil der neuen, vernetzten Öffentlichkeit. Referenzen durch Verlinkungen und Zitate – auch und gerade ohne Absprache oder gar Entlohnung des Urhebers – ermöglichen überhaupt erst die Kultur des vernetzten Gesellschaftsdiskurses und sind unbedingt schützenswert.
9. Das Internet ist der neue Ort für den politischen Diskurs.
Demokratie lebt von Beteiligung und Informationsfreiheit. Die Überführung der politischen Diskussion von den traditionellen Medien ins Internet und die Erweiterung dieser Diskussion um die aktive Beteiligung der Öffentlichkeit ist eine neue Aufgabe des Journalismus.
10. Die neue Pressefreiheit heißt Meinungsfreiheit.
Artikel 5 des Grundgesetzes konstituiert kein Schutzrecht für Berufsstände oder technisch tradierte Geschäftsmodelle. Das Internet hebt die technologischen Grenzen zwischen Amateur und Profi auf. Deshalb muss das Privileg der Pressefreiheit für jeden gelten, der zur Erfüllung der journalistischen Aufgaben beitragen kann. Qualitativ zu unterscheiden ist nicht zwischen bezahltem und unbezahltem, sondern zwischen gutem und schlechtem Journalismus.
11. Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information.
Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen – sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
12. Tradition ist kein Geschäftsmodell.
Mit journalistischen Inhalten lässt sich im Internet Geld verdienen. Dafür gibt es bereits heute viele Beispiele. Das wettbewerbsintensive Internet erfordert aber die Anpassung der Geschäftsmodelle an die Strukturen des Netzes. Niemand sollte versuchen, sich dieser notwendigen Anpassung durch eine Politik des Bestandsschutzes zu entziehen. Journalismus braucht einen offenen Wettstreit um die besten Lösungen der Refinanzierung im Netz und den Mut, in ihre vielfältige Umsetzung zu investieren
13. Im Internet wird das Urheberrecht zur Bürgerpflicht.
Das Urheberrecht ist ein zentraler* Eckpfeiler der Informationsordnung im Internet. Das Recht der Urheber, über Art und Umfang der Verbreitung ihrer Inhalte zu entscheiden, gilt auch im Netz. Dabei darf das Urheberrecht aber nicht als Hebel missbraucht werden, überholte Distributionsmechanismen abzusichern und sich neuen Vertriebs- und Lizenzmodellen zu verschließen. Eigentum verpflichtet.
*) Stilblüten-Alarm aufgehoben
14. Das Internet kennt viele Währungen.
Werbefinanzierte journalistische Online-Angebote tauschen Inhalte gegen Aufmerksamkeit für Werbebotschaften. Die Zeit eines Lesers, Zuschauers oder Zuhörers hat einen Wert. Dieser Zusammenhang gehört seit jeher zu den grundlegenden Finanzierungsprinzipien für Journalismus. Andere journalistisch vertretbare Formen der Refinanzierung wollen entdeckt und erprobt werden.
15. Was im Netz ist, bleibt im Netz.
Das Internet hebt den Journalismus auf eine qualitativ neue Ebene. Online müssen Texte, Töne und Bilder nicht mehr flüchtig sein. Sie bleiben abrufbar und werden so zu einem Archiv der Zeitgeschichte. Journalismus muss die Entwicklungen der Information, ihrer Interpretation und den Irrtum mitberücksichtigen, also Fehler zugeben und transparent korrigieren.
16. Qualität bleibt die wichtigste Qualität.
Das Internet entlarvt gleichförmige Massenware. Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig und besonders ist. Die Ansprüche der Nutzer sind gestiegen. Der Journalismus muss sie erfüllen und seinen oft formulierten Grundsätzen treu bleiben.
17. Alle für alle.
Das Web stellt eine den Massenmedien des 20. Jahrhunderts überlegene Infrastruktur für den gesellschaftlichen Austausch dar: Die “Generation Wikipedia” weiß im Zweifel die Glaubwürdigkeit einer Quelle abzuschätzen, Nachrichten bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen und zu recherchieren, zu überprüfen und zu gewichten – für sich oder in der Gruppe. Journalisten mit Standesdünkel und ohne den Willen, diese Fähigkeiten zu respektieren, werden von diesen Nutzern nicht ernst genommen. Zu Recht. Das Internet macht es möglich, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die man einst Leser, Zuhörer oder Zuschauer nannte – und ihr Wissen zu nutzen. Nicht der besserwissende, sondern der kommunizierende und hinterfragende Journalist ist gefragt.
Internet, 07.09.2009
- Markus Beckedahl
- Mercedes Bunz
- Julius Endert
- Johnny Haeusler
- Thomas Knüwer
- Sascha Lobo
- Robin Meyer-Lucht
- Wolfgang Michal
- Stefan Niggemeier
- Kathrin Passig
- Janko Röttgers
- Peter Schink
- Mario Sixtus
- Peter Stawowy
- Fiete Stegers
Nicht so revolutionär, wie die Überschrift vermuten lässt: Hier ist der Link zum Internet-Manifest.
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